„Jede Falte hat was. Jede Falte hat was zum Erzählen.“ (Frau M.)
Mit diesem Zitat aus einem Interview beginnt die Dissertation von Anna-Christina Kainradl, in der sie das Thema "Intersektionale Diskriminierung von älteren Migrant*innen im österreichischen Gesundheitswesen. Eine ethische Analyse von Gerechtigkeitsdimensionen" bearbeitet.
Wir wollen mehr von ihr erfahren.
Die Fragen stellte Klaus Wegleitner.
(März 2024)
Was verbindet dich mit der Theologischen Fakultät?
In persönlichen Kontakten entdeckte ich die Fakultät schon früh als Ort mit Persönlichkeiten, die meine Lust am Denken und kritischen Hinterfragen förderten. In Lehrveranstaltungen jedoch habe ich die Fakultät für mich in einem Seminar von Reinhold Esterbauer zur „Ordnung der Dinge“ von Michel Foucault entdeckt. Wie hier gemeinsam gedacht wurde, die eigenen Perspektiven kritisch hinterfragt und Zusammenhänge aufgezeigt wurden, hat nicht nur meine Liebe zu Foucault geweckt. Im Fach der Pastoraltheologie lernte ich in den Lehrveranstaltungen von Rainer Bucher meinen selbstverständlichen Blick auf (nicht nur kirchliche) Wirklichkeit zu hinterfragen und pädagogische, kirchliche sowie soziale Praxis auf ihre hegemonialen Deutungsstrukturen hin zu befragen.
Durch das Lehren der Medizinethik an der Medizinischen Universität Graz und ein Gesundheitsförderungs-Projekt, angesiedelt bei Walter Schaupp am Institut für Moraltheologie, entdeckte ich Alter(n) als Themenfeld. Zuerst abgeschreckt („Ich bin nicht alt – das sind ja nur die Anderen“ – eine Aussage, deren implizite Altersbilder und Denkfiguren ich erst später zu deuten lernte) wurde mir bald Alter(n) als eine „Radikalisierung menschlicher Existenzerfahrung“ (Ulrich Körtner) wichtig. Das damit einhergehende Potential Fragen von Autonomie und Abhängigkeit, Anerkennung und Gerechtigkeit, Care und Gesellschaft uvm. unter dem Blickwinkel des Alter(n)s wissenschaftlich bearbeiten zu können, fasziniert mich seither.
Einen idealen Platz für dieses Interesse habe ich am Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung (CIRAC), einem Kooperationspartner der Theologischen Fakultät, gefunden. Hier ist es mir möglich, meine interdisziplinäre Wissenschaftsbiographie (PPP/Französisch (Lehramt) sowie Selbstständige Religionspädagogik) mit gesellschaftlich verantworteter forscherischer Tätigkeit zu verbinden, partizipativ angelegte Kooperation mit gesellschaftlichen Akteur:innen zur Weiterentwicklung von Methode und Theorie zu betreiben und neue Forschungsfelder im Dialog mit zivilgesellschaftlicher Expertise zu erschließen.
Wofür schlägt dein Herz in Forschung und Lehre?
„Gelungenes Leben wird in der Praxis des Lebens verwirklicht“ (Schneider-Flume 2004, 26) betont Gunda Schneider-Flume in ihrem Band „Leben ist kostbar: Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens“. Auf die Vielfalt dieser Versuche und Narrative gelingender Lebenspraxis zu schauen, ihre Bedingungen, Herausforderungen und Vulnerabilitäten zu analysieren war ein Antrieb für mein Dissertationsprojekt. Die darin eingelagerten Anthropologien sowie Aushandlungen von Normen, Werten und Haltungen zu analysieren und damit zu einer gerechten Gesellschaft beizutragen, ist zentraler Fokus meiner forscherischen Tätigkeit. Die dafür notwendigen und angemessenen theoretischen und methodischen Grundlagen weiterzuentwickeln, ist mir ein großes Bedürfnis. Dabei ist gerade die Begegnung mit Studierenden Inspiration, Vertiefung und Weiterführung.
Was war das Thema und was sind die Schlüsselerkenntnisse deiner Dissertation?
In meiner Dissertation untersuche ich ethische (Gerechtigkeits-)Theorien auf ihr Potential intersektionale Diskriminierung am Beispiel älterer Migrant:innen im österreichischen Gesundheitswesen wahrzunehmen. Dafür habe ich die Narrative von Expert:innen im Gesundheitswesen und im Projektmanagement sowie älterer Migrant:innen auf ihre Aushandlungen von Gerechtigkeit hin befragt und in Beziehung zu den Konzeptionen von Gerechtigkeit in der Prinzipienethik von Beauchamp und Childress gesetzt. Dadurch gelingt es nicht nur notwendige Erweiterungen dieser Gerechtigkeitstheorie aufzuzeigen, sondern auch die Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts der Intersektionalität auf einer deskriptiven wie (gerechtigkeits-)theoretischen Ebene zu beschreiben.
Neben dem Potential einer intersektionalen Ethik-Analyse für die Untersuchung der Narrative älterer Migrant:innen in Gesundheitsfragen wurde in der Analyse insbesondere die subversive Rahmung von Ungerechtigkeitssituationen durch die älteren Migrant:innen selbst deutlich. Anders als die Expert:innen erzählten diese Erlebnisse von ungleichem und ungerechtem Zugang zum Gesundheitswesen gerahmt als Ausdeutungen der eigenen Handlungsmächtigkeit mit einer Konzeption von Gerechtigkeit als Frage der Anerkennung.
Eine Erkenntnis der Dissertation besteht daher darin, dass ungerechte Zugangs- und Wirksamkeitsbarrieren bekämpft werden können, indem intersektionale Dynamiken in Bezug auf Alter und Migration sowie Aushandlungen von Gerechtigkeit der älteren Migrant:innen selbst – mit den darin sichtbar werdenden Herausforderungen und Potentialen – stärker beachtet werden.
Wohin zieht dich thematisch deine Forscherinnenleidenschaft? Was ist dir für die Zukunft wichtig?
Die Begegnungen mit den älteren Migrant:innen sowie mit dem Konzept der Intersektionalität als analytische Linse haben mich nachhaltig geprägt. Diese Perspektiven zu erweitern um Fragen der Hochaltrigkeit sowie von Palliative Care erscheint mir nicht nur in Hinblick auf die vorherrschenden Forschungslücken spannend und vielversprechend. Dabei auch, im Sinne der Health Humanities, medizinische und gesundheitswissenschaftliche Grundlagen interdisziplinär zu befragen und forscherisch weiterzuentwickeln, stellt ein weiteres forscherisches Interesse dar, dem ich gerne folgen möchte.